Das Potenzial der Hausarztmedizin wird noch zu wenig genutzt.
Publiziert am 6. Februar 2023 von Werner Mäder
Ohne die Grundversorgung wird Medizin richtig teuer. So etwa könnte man die Erkenntnisse zusammenfassen, welche die Teilnehmende des 3C-Meetings in Davos Ende letzten Jahres zusammengetragen haben. Die Hausarztmedizin könnte genau dort helfen, wo es harzt im Schweizer Gesundheitswesen, denn sie ist kostensparend und gut koordiniert. 3C steht dabei für Community of Coordinated Care; zu dieser Community gehören Vertreter und Vertreterinnen von Ärzte- und Praxisnetzen, Betriebsgesellschaften, Versicherungen sowie Verbänden aus der Politik. Eingeladen zur Tagung hat der Dachverband der Schweizer Ärztenetzte, medswiss.net.
Gesundheitswesen als Patient
Das Schweizer Gesundheitswesen krankt an allen Ecken und Enden und braucht koordinierte Behandlung. Nur scheint dies in unserem ökonomischen Umfeld und im politischen System kaum machbar. Im Gerangel um Tarife staatliche Kontrolle, tradierte Einflussbereiche und festgefahrene Gewohnheiten läuft dieser Patient Gefahr, eine der besten Therapien zu verlieren: die bewährte Betreuung und Behandlung durch erfahrene Hausärztinnen nd Hausärzte, die rund 80% der medizinischen Probleme selbst lösen können.
Warum hausärztliche Grundversorgung?
Allein das Vermeiden von Ineffizenzen könnte Milliarden einsparen, wie Nationalrätin Ruth Humbel an der Tagung darlegte: Mangelnde Koordination der Leistungen koste uns drei Milliarden Franken, die angebotsindizierte Nachfrage weitere ein bis zwei Milliarden und der sogenannte Moral Hazard rund zwei Milliarden. Humbel attestiert den gut strukturierten Ärztenetzen mit Budgetmitverantwortung, diese Ineffizienzen durch Koordination der Behandlung und durch Vermeiden unnötiger Therapien zu minimieren. Sie sparen bei besserer Behandlungsqualität risikobereinigt 15-20% der Kosten ein.
Grounding der ambulanten Versorgung? Ohne Grundversorgung wird's richtig teuer
In seinem Einführungsreferat «Grounding der ambulanten Versorgung? Ohne Grundversorgung wird’s richtig teuer» betonte Dr. med. Wolfgang Czerwenka, Verwaltungsratspräsident Argomed Ärzte AG, denn auch, dass das Hausarztmodell nicht bloss ein Versicherungsmodell sei, sondern ein Versorgungsmodell, das
- einen gesicherten Zugang zu einer Hausärztin oder einem Hausarzt garantiere,
- 80% der medizinischen Probleme löse,
- eine adäquate und koordinierte Weiterweisung entlang der Behandlungskette sichere,
- dafür sorge, dass Befunde regelmässig gesichtet, dokumentiert, interpretiert und ganz besonders auch gewertet werden
- und zwar über den ganzen Lebenszyklus eines Menschen hinweg.
Aktuell deutet aber vieles darauf hin, dass der kostendämpfende Beitrag der Hausarztmedizin und insbesondere die Koordinationsleistungen der Hausarztnetze zu wenig gewürdigt werden.
Politik muss die koordinierte Versorgung ohne etatistische Regulierung stärken
Die koordinierte Versorgung muss von der Politik ohne etatistische Regulierung gestärkt werden. Auf diesen wunden Punkt des zweiten Kostendämpfungspaket des Bundes wies Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH, in ihrem Referat hin: Wo bei den politischen Forderungen «Netzwerk» drauf stehe, stecke eigentlich mehr staatliche Administration drin (Artikel 37a & 48a des Kostendämpfungspakets[1]) und vieles deute darauf hin, dass der Staat sich Schritt für Schritt auf eine totale Steuerung hinbewege.
Stärkung der hausärztlichen Medizin
Es brauche Wettbewerb unter den Qualitätsmodellen – keinen Wettbewerb unter den Prämiensparmodellen, sagte Dr. med. Anne Sybil Götschi, Präsidentin von medswiss.net. Die hausärztlich koordinierte Versorgung sei die wichtigste Massnahme zur Sicherung von Qualität und einer kostenbewussten Medizin. Sie beruhe seit Jahren auf Freiwilligkeit bei Ärztinnen und Ärzten, Versicherungen und Patientinnen und Patienten. Das habe sich bewährt.
Lösung in fünf Punkten
Gutstrukturierte Ärztenetze mit Budgetmitverantwortung, wie es sie in allen Regionen der Schweiz gibt, stehen vor einem Marketing-Dilemma. Koordinierte Modelle verfügen nachgewiesenermassen über bessere Qualität der medizinischen Leistungen als konventionelle Lösungen und dies erst noch zu aktuell rund 15 bis 20% tieferen Kosten. Von den Versicherungen werden sie aber als reine Sparmodelle verkauft. Sie teilen sich ihren Platz unter den unzähligen vertragslosen Modellen, darunter Telemedizin und Listenmodelle mit bescheidenem Kostensparnachweis. Sparmodelle werden aber generell mit minderer Qualität assoziiert. Analog dazu müsste die Migros ihrer «M-Budget»-Reihe eine höhere Qualität attestieren als ihren «Selection»-Produkten.
Dies sei ein grosses Problem für die Qualitätsmodelle, sagt Dr. med. Leander Muheim von mediX schweiz, denn Trittbrettfahrermodelle
- leiten ihre Versicherten an koordinierende Hausarztpraxen weiter, welche diese trotz knapper Kapazitäten aufnehmen müssen. Sie unterhöhlen damit die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Modell.
- verstärken die Wahrnehmung, dass die Wahl des alternativen Versicherungsmodells keine Rolle spielt.
- beanspruchen die koordinierte Versorgung, ohne deren Nachfrage zu erhöhen.
- schwächen alternative Versicherungsmodelle als Qualitäts- und Effizienzinstrument, welches die Versorgung beeinflusst.
Leander Muheim sieht es als Aufgabe der Organisationen und Ärztenetzwerke der alternativen Versicherungsmodelle an, ihre leistungsbeziehenden «kranken Patientinnen und Patienten» für ihre Produkte zu mobilisieren und den echten Hausarztmodellen im Markt mehr Bedeutung zu verleihen.
Medical-Home-Modell aus Ausweg aus dem Dilemma
Mit dem Medical-Home-Modell weist Muheim einen Ausweg aus diesem Dilemma:
- Qualität statt Quantität: Qualität bekannt machen.
- Persönliche und kontinuierliche Arztbeziehung, Arzt oder Ärztin behält Überblick und koordiniert.
- Gesicherter Zugang zur Hausärztin oder zum Hausarzt durch Vertrag: Patienten und Patientinnen die passenden Versicherungsmodelle kommunizieren und privilegierten Zugang gewähren.
- Aufnahmekapazitäten der Praxen für Verkauf kommunizieren.
Digitalisierung fördern
Gemäss einer Studie von McKinsey und der ETH Zürich könnten mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens rund zehn Prozent der Kosten eingespart werden [2]. Die Schweiz gilt aber in diesem Bereich als rückständig und hat einen grossen Nachholbedarf.
Nationalrat Andri Silberschmidt fordert für alle Digitalisierungsmassnahmen der öffentlichen Hand, dass diese analog zum Autobahnbau bloss die Standards festlegt, das heisst die nationalen Regeln definiert, und dann die Privaten die Umsetzung übernehmen können. Dies würde beispielsweise für das elektronische Patientendossier (EPD) bedeuten, dass der Bund die doppelte Freiwilligkeit abschafft, die Grundinfrastruktur sicherstellt und offene Schnittstellen schafft, um wettbewerbsneutral zu bleiben.
Manifest für Digitalisierung in der Medizin
Unter den Teilnehmenden der Tagung ist das Interesse an digitalen Lösungen durchaus vorhanden, wenn diese in der Praxis auch zur Vereinfachung der Abläufe und zu mehr Effizienz im Alltag der Leistungserbringer führen.
Im Sinne eines «Manifests der Leistungserbringer zur Umsetzung von Digitalisierungsstrategien» haben sie daher die folgenden Forderungen an die Vielzahl der aktuell entstehenden, eingeständigen Lösungen formuliert:
- Die Angebote müssen Nutzen stiften. Priorität haben ein integrierter Medikationsplan, die Diagnoseliste und der Austausch von Labordaten.
- Die Angebote sollen primär die Prozesse vereinfachen, nicht das Erlebnis von Patientinnen und Patienten steigern.
- Die Angebote sollen offen sein für alle und auf einer verbindlich standardisierten Schnittstelle basieren.
- Aufwände für die Einführung von staatlich vorgeschriebenen Systemen (zum Beispiel des EPD) müssen bei der Entschädigung der Akteure berücksichtigt werden.
- Die Verantwortung für die geteilten Daten muss klar geregelt sein.
Fazit in fünf Thesen
Die grosse Mehrheit der Bevölkerung wünsche sich eine Hausärztin oder einen Hausarzt. In der Schweiz würden ausserdem in den nächsten Jahren genügend ausgebildet, sagte Dr. med. Felix Huber, Präsident von mediX schweiz [3,4]. Huber erklärte, es sei aber wichtig «die Attraktivität der Grundversorgung so zu steigern, dass die meisten nach Abschluss ihres Studiums Hausärztinnen, Pädiater und Psychiaterinnen werden wollen. Für sie soll es zudem attraktiv sein, in neuen Gruppenpraxen auf dem Land zu arbeiten.»
Huber plädierte dafür, dass die Kantone ihre Weiterbildungsgelder mehrheitlich für die Ausbildung in Allgemeiner Innerer Medizin (AIM) und für Hausarztassistenzstellen einsetzen. Es brauche auch mehr öffentlich mitfinanzierte ländliche Assistenzstellen und hausärztlichen Unterricht für Studierende.
Zum Schluss der Veranstaltung präsentierte er im Sinne eines gemeinsamen Fazits fünf Thesen:
- Die Ärztenetze betonen die Vorteile des Medical-Home-Modells. Sie profilieren sich über die Exklusivität des Zugangs zur Hausarztmedizin und legen ihre Qualitätsarbeit offen. «Es ist ein Privileg, sicher einen Hausarzt zu haben.»
- Gleich lange Spiesse im KVG 41.4 und Prämienliberalisierung KVV 101
Massnahmenpaket 2: Keine staatlich reglementierte koordinierte Versorgung; Art 35 und 37 sind zu streichen. - Einheitliche Finanzierung und TARDOC rasch einführen.
- Die Hausarztmedizin/Grundversorgung (AIM, praktischer Arzt oder Ärztin, Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie) ist von den Zulassungskriterien auszunehmen, sowohl bei der dreijährigen Erfahrung wie auch bei der Kontingentierung.
- Der Bund soll bei Hausärzten oder Hausärztinnen in der Grundversorgung auf das Kriterium der Unterversorgung verzichten.
- Die gesamte dreijährige Erfahrung soll ab sofort auch in den Grundversorgerpraxen absolviert werden können. - Hausarztmedizin stärken
– Kantone: Spitalassistenz auf AIM konzentrieren, Assistenzarztprogramme in den Hausarztpraxen massiv ausbauen.
– Netze: Beteiligung an Assistenzarztprogrammen und Praxismodellen, Attraktivität der Landarztpraxis aufzeigen.
Die Veranstaltung machte erneut deutlich, wie wichtig die medizinische Grundversorgung durch eine koordinierte Hausarztmedizin für das Schweizer Gesundheitssystem ist. Sie trägt wesentlich zu hoher Qualität zu tragbaren Kosten bei. Mit guten politischen Voraussetzungen wird dieser Grundpfeiler des Schweizer Gesundheitsmodells auch in Zukunft seinen Beitrag zur weiteren Steigerung der Qualität der Betreuung und Behandlung sowie zur Senkung der Kosten leisten.
Literatur
(1 www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/2428/de
(2) www.mckinsey.com/ch/our-insights/digitization-in-healthcare
(3) www.obsan.admin.ch/sites/default/files/2021-09/Obsan_04_2021_BERICHT.pdf