mediX-Positionspapier zur hausärztlich koordinierenden Versorgung
Publiziert am 28. August 2022 von Werner Mäder
Über die obligatorische Grundversicherung finanzieren wir im Gesundheitswesen eine gefährliche Überversorgung einfach mit. Das System sollte über elegant austarierte Anreizsysteme gesteuert werden, die auf Qualität zielen, nicht auf Quantität, schreiben Dr. med. Felix Huber, Präsident von Medix Zürich und Medix Schweiz und Dr. med. Leander Muheim, ärztlicher Leiter von Medix Zürich und Vizepräsident von mediX Schweiz kürzlich in ihrem gemeinsamen Gastkommentar in der NZZ.
Basierend auf dem kürzlich veröffentlichten mediX-Positionspapier zur hausärztlich koordinierenden Versorgung (hier als PDF herunterladen), stellen sie fest, dass sich die Schweiz ein sehr teures Gesundheitssystem leiste, das fast alle Wünsche erfüllt. Und jedes Jahr reiben wir uns im Herbst die Augen, dass dieses Versorgungssystem immer etwas teurer wird.
Die Politik reagiert regelmässig mit mehr Regulierung auf die steigenden Krankenversicherungsprämien – dabei liegt die beste Lösung schon lange auf dem Tisch: die koordinierende Hausarztmedizin. Globalbudgets, Kostendach und Kostenbremse sind dabei lediglich Beruhigungsmittel und parteipolitische Pseudoprofilierung. Ein hochkomplexes Gesundheitswesen lässt sich nur über elegant austarierte Anreizsysteme erfolgreich steuern. Die gegenwärtigen Anreize belohnen aber vor allem Quantität und erst dann Qualität.
Die Indikationen für medizinische Leistungen sollten sorgfältig gestellt werden, und den unterschiedlichen Präferenzen und Bedürfnissen verschiedener Patienten sollte mehr preislicher Spielraum beigemessen werden. Wer Behandlungen ohne Wirkungsnachweis à la carte und ganz ohne Wartezeiten beansprucht, sollte dafür selber aufkommen oder mehr zahlen.
Im heutigen System finanzieren wir alle über die obligatorische Grundversicherung den nutzlosen Überkonsum und die nicht zuletzt auch gefährliche Überversorgung einfach mit. Kommt dazu, dass Präventionsleistungen im Einzelleistungstarif ein stiefmütterliches Dasein fristen. In der medizinischen Versorgung kann sehr viel eingespart werden, und dies ohne Qualitätseinbusse. Wir Hausärzte wissen aus der täglichen Erfahrung, dass viele Indikationen für Diagnostik und Therapie falsch oder überflüssig sind. Sie werden aus pekuniären Gründen, aus Unwissenheit oder aus Angst durchgeführt. Unser Einzelleistungsvergütungssystem verleitet schnell zur Mengenausdehnung.
Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) sieht eine Lösung vor, die in den letzten dreissig Jahren in der Schweiz sorgfältig entwickelt wurde und sich als wirkungsvolle Massnahme gegen Kostenschub und schlechte Indikationsqualität bewährt hat: die koordinierende Hausarztmedizin über das Hausarztmodell. Die Patienten wählen ihre Hausärzte, die in einem Netzwerk engagiert sind, und lassen die ganze medizinische Versorgung durch diese Person koordinieren. Das liefert nachgewiesenermassen die bessere Medizin als die unkoordinierte Versorgung. Die Vorteile dieser guten Hausarztmodelle sind längstens bekannt: Eine sofortige Kosteneinsparung von bis zu 20 Prozent; bessere Qualität; ein gesicherter Zugang zum Hausarzt; ein laufend aktualisiertes Patientendossier, in welches auch Behandlungen von Dritten Eingang finden und das dem Hausarzt so eine ganzheitliche Behandlung des Patienten ermöglicht.
Bundesrat Alain Berset möchte diesen Versorgungsweg im Massnahmenpaket II zu den kostendämpfenden Massnahmen in Form einer Erstberatungsstelle obligatorisch machen. Er möchte das Gute zur Pflicht machen – leider ohne es richtig durchdacht zu haben.
Die koordinierende Hausarztmedizin kann nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgreich sein:
- Die Patienten wählen freiwillig ein solches Modell, wenn sie von dieser gut organisierten Medizin profitieren wollen. Alle anderen können ihr bisheriges Versicherungsmodell behalten, müssen dann aber den unnötigen Medizinkonsum mit einer höheren Prämie mitfinanzieren.
- Der koordinierende Hausarzt gewährleistet ein Kontinuum in der Betreuung und Prävention derjenigen Patienten, die ein solches Modell gewählt haben.
- Die Ärzte organisieren sich freiwillig in Ärztenetzen und schliessen verbindliche Verträge mit den Versicherungen ab, die auch eine finanzielle Mitverantwortung beinhalten.
- Die Versicherungen verzichten auf Trittbrettfahrermodelle und einseitige Listenprodukte, weil dieses Freeriding den Anreiz der Ärzteschaft, Zusatzaufwände für eine koordinierende Hausarztmedizin zu betreiben, zunichtemacht.
- Die Netzwerke legen ihre Versorgungsqualität offen und stehen untereinander in einem Qualitäts- und Preiswettbewerb.
Wenn der Primat der Hausarztmedizin von oben diktiert und obligatorisch wird, dann gibt es keine Anreize mehr für die Versicherer, gute Verträge abzuschliessen, und für Ärzte, eine sorgfältige Koordination zu praktizieren. Der funktionierende Wettbewerb würde dadurch vernichtet und damit auch der Effekt dieser bislang äusserst erfolgreichen Modelle. Eine stärkere Differenzierung der Versorgungskanäle über Netzwerke stellt den schonendsten und besterprobten Weg dar, um schrittweise Kosteneinsparungen und Qualitätsverbesserungen dort zu realisieren, wo es möglich und sinnvoll ist – unter Einbezug von Patienten, Leistungserbringern und Versicherern.
Die Bevölkerung kann zwischen Maximalmedizin und gut koordinierter Medizin weiterhin frei wählen und unterschiedliche Preise dafür bezahlen. Die Anreize müssen so gesetzt werden, dass sich möglichst viele Ärztenetze noch stärker in Richtung Qualitätstransparenz und Kosteneffizienz entwickeln, damit in Zukunft alle Patienten, die das möchten, das Privileg haben, eine solch qualitativ hochstehende und im internationalen Vergleich exklusive Gesundheitsversorgung zu bezahlbaren Preisen in Anspruch zu nehmen.
(Dieser Text wurde in der NZZ vom 24. August 2022 als Gastkommentar publiziert.)